Was ist die Erzählstimme?

Die Erzählstimme ist die Stimme der Figur, die die Geschichte erzählt. Es ist die Stimme, die deine Leser*innen in ihrem Kopf beim Lesen hören. Eine gute Erzählstimme kann selbst einen inhaltlich langatmigen Text zu einem „Pageturner“ machen.

Es ist ähnlich wie bei einem Menschen mit angenehmer Stimme: Wir hören dieser Person gerne zu und sie muss schon echten Blödsinn erzählen, damit wir die Lust verlieren, ihr zu lauschen.

Drei Komponenten, die die Erzählstimme beeinflussen

Natürlich ist die Erzählstimme auch vom Stil des Autors oder der Autorin geprägt, aber die Erzählstimme ist viel mehr als ein individueller Stil: Sie sagt etwas aus über die erzählende Figur, ihre Persönlichkeit, ihr Umfeld, ihre Herkunft, ihr Alter und ihre aktuelle Stimmungslage. Die Erzählstimme sollte deutlich machen, ob die erzählende Figur zum Beispiel vergnügt, schlecht gelaunt, wütend oder euphorisch ist. Und sie unterscheidet sich je nachdem, wem die Geschichte erzählt wird. Sie hängt also ab von der Adressat*in. Das bedeutet, die Erzählstimme in einem Kinderbuch klingt anders als in einem Thriller oder einem Liebesroman – jedenfalls sollte sie das.

Auch die Erzählstimme sollte – wie die Erzählperspektive – über deine gesamte Geschichte hinweg durchgehalten werden. Wenn du einen Roman aus mehreren Perspektiven schreibst, das heißt, von mehreren Personen erzählen lässt, bedeutet das: Jede erzählende Figur unterscheidet sich in ihrer Erzählstimme von der anderen, aber jede Figur hält ihre eigene Stimme den ganzen Roman hindurch aufrecht.

Nicht bei allen Geschichten muss die Erzählstimme besonders markant hervortreten. Sie kann auch annähernd neutral sein oder deine eigene Stimme. Letzteres gilt vor allem, wenn du autobiografisch schreibst.

Wenn du eine fiktive Ich-Erzählung schreibst, ist die Erzählstimme besonders wichtig, denn sie sagt viel über die Figur aus.

Auch eine allwissende Erzählfigur kann eine eigenständige Stimme besitzen, mit der sie nicht nur erzählt, sondern auch kommentiert und die Leser*innen anspricht.

Bei einer personalen Erzählperspektive (Er/Sie-Erzählperspektive) scheint die Erzählstimme nicht wichtig. Vielleicht denkst du sogar, sie sollte neutral sein. Aber wenn du schreibst, wirst du schnell merken, dass es einen Unterschied macht, ob du eine Geschichte mit Humor, Ironie, sachlich oder besonders blumig erzählst. Und genau diese Entscheidungen, die du triffst, sind Entscheidungen über die Erzählstimme.

 

4 grobe Kategorien von Erzählstimmen

Erzählstimmen lassen sich grob in 4 Kategorien einteilen. Diese Kategorien können dir helfen, eine Erzählstimme zu finden, die zu deiner Geschichte und der erzählenden Figur passt, und diese Stimme auch durchzuhalten.

  1. Die saloppe Stimme: Sie spricht so, wie sie es mit Freund*innen oder ihrer Familie im Alltag tut. Sie verwendet Umgangssprache, Dialekt oder Slang, flucht, reißt Witzchen und verwendet Wörter der gesprochenen Sprache. Kurz: Sie redet, wie ihr der Schnabel gewachsen ist.
    Sie eignet sich gut für Ich-Erzählungen, kann aber auch anstrengend sein, sowohl beim Schreiben als auch beim Lesen – vor allem wenn Dialekt oder Slang verwendet wird. Je nach Sprachgebrauch kann sie auch abstoßen, befremden oder brüskieren.
  2. Die informelle Stimme: Sie spricht zwar locker, aber sie verwendet keine Umgangssprache, keinen Slang, keinen Dialekt. Sie spricht, als erzähle sie Menschen etwas, die sie nicht näher kennt. Sie ist locker, bleibt aber höflich. Kurz: Sie zeigt ihre gute Kinderstube.
    Diese Stimme eignet sich gut für eine Ich-Erzählung, aber auch für personale und auktoriale Erzählungen, wenn du eine vertraute Atmosphäre erzeugen möchtest, deinen Leser*innen das Gefühl geben möchtest: Du gehörst dazu.
  3. Die formelle Stimme: Diese spricht keine Alltagssprache. Sie klingt distanziert und „vornehm“. Diese Stimme wird verwendet, wenn die Erzählung verschiedene Generationen ansprechen möchte, weil sie sich zeitlich nicht einordnen lässt. Sie eignet sich sowohl für personale als auch allwissende Erzählungen. Ich-Erzählungen funktionieren mit dieser Stimme nur, wenn die erzählende Figur einen entsprechenden Hintergrund hat.
  4. Die offizielle Stimme: Eine extrem distanzierte, feierliche Stimme, die nach Festtagsrede klingt. Sie verringert das Erzähltempo und verleiht dem Erzählten durch die feierliche Stimme Gewicht. Für Ich-Erzählungen so gut wie nie einsatzbar – allenfalls als Satire.

Diese Kategorien sind sehr grob und viele Erzählstimmen lassen sich irgendwo zwischen diesen Kategorien einordnen. Aber sie können helfen, sich über die Erzählstimme für die eigene Geschichte klarzuwerden.

 

Erzählstimmen-Beispiel

Ein wunderbares – wenn auch inhaltlich sehr schwer zu verdauendes – Beispiel für unterschiedliche Erzählstimmen ist Andrea Maria Schenkels „Tannöd“, ein Kriminalroman, der einen realen Kriminalfall literarisch aufarbeitet und dabei unterschiedlichste fiktive Zeug*innen zu Wort kommen lässt. Hier einige Beispiele:

Betty, 8 Jahre

Die Marianne und ich sitzen in der Schule nebeneinander. Sie ist meine beste Freundin. Deshalb sitzen wir ja auch beieinander. Die Marianne mag die Rohrnudeln meiner Mama immer besonders gern. Wenn meine Mama welche macht, bringe ich ihr immer eine mit, in die Schule oder am Sonntag auch mit in die Kirche. Am letzten Sonntag habe ich ihr auch eine mitgebracht, aber die musste ich dann selbst essen, weil sie nicht in der Kirche war.
Was wir immer so gemeinsam machen? Was man halt so spielt, Räuber und Gendarm, Fangerles, Verstecken. Im Sommer ab und zu bei uns im Hof Verkaufen. Da richten wir uns am Gartenzaun zum Gemüsegarten einen kleinen Laden ein. Mama gibt mir dann immer eine Decke und wir können unsere Sachen darauf ausbreiten: Äpfel, Nüsse, Blumen, buntes Papier oder was wir halt so finden.
Einmal hatten wir sogar Kaugummi, den hat meine Tante mitgebracht. Der schmeckt prima nach Zimt. Meine Tante sagt, die Kinder in Amerika essen das immer. Meine Tante arbeitet nämlich bei den Amis und ab und zu bringt sie Kaugummi und Schokolade und Erdnussbutter mit. Oder Brot in so komischen grünen Dosen. Einmal im letzten Sommer sogar Eis. 

Babette Kirchmeier, Beamtenwitwe, 86 Jahre

Die Marie, die Marie. Die war bei mir als Haushaltshilfe. Na, bis ich ins Altenheim bin. Ja, ja, als Haushaltshilfe, die Marie. War eine ganz brave. Ganz brav. Hat immer alles schön erledigt. Nicht so wie die jungen Dinger, immer nur fortgehen und mit den Burschen poussieren. Nein, die Marie war nicht so. Ein braves Mädel war sie. Nicht besonders hübsch, aber brav und arbeitsam. Die hat mir den ganzen Haushalt in Schuss gehalten.
Wissen Sie, ich bin nicht mehr so gut auf den Beinen, darum bin ich auch ins Heim. Kinder hab ich keine und mein Mann ist auch schon fast fünfzehn Jahre tot. Im Juni am 24. werden es fünfzehn Jahre. Der Ottmar war ein guter Mann. Ein guter Mann.
Die Marie ist zu mir ins Haus, weil die Beine nicht mehr so wollten. Die Beine, die wollen schon lange nicht mehr. Wenn man alt wird, will vieles nicht mehr, nicht nur die Beine. Alt werden ist nicht schön, das hat schon meine Mutter immer gesagt, glauben Sie mir. Nicht schön ist das. 

Kurt Huber, Monteur, 21 Jahre

Am Dienstag war’s, ja am Dienstag, dem 22.3.195 … Der alte Danner hatte schon eine Woche zuvor bei uns angerufen, in der Firma. Ganz pressant hatte er es gemacht. Aber das Wetter war nicht so, da konnte einer nicht einfach die Dreiviertelstunde mit dem Radl rausfahren. Immer geschneit hat es und geregnet auch zwischendurch. War so ein richtiges Scheißwetter. Und Arbeit hatten wir in der Firma ja auch noch genügend.
Ich muss ehrlich sagen, ich fahre nicht gerne zu denen nach Tannöd raus. Warum? Na, die sind ziemlich komisch. Eigenbrötler. Und geizig sind die. So richtig geizig, neiden einem jedes Stück Brot, jeden Schluck Wasser.
Als ich im Sommer schon einmal den Motor der Futterschneidemaschine reparieren musste, haben die mir nicht einmal eine Brotzeit angeboten. Obwohl ich doch über fünf Stunden ununterbrochen an diesem Motor herumgeschraubt und gearbeitet habe. Nicht einmal ein Glas Wasser oder eine Tasse Milch, geschweige denn eine Halbe. 

Maria Lichtl, 63 Jahre, Pfarrersköchin

Wenns mich fragen, der Teufel hats geholt. Ja der Deifel, der hats geholt die ganze Sippschaft. Der Herr Pfarrer glaubt’s mir nicht. Der sagt, ich soll nicht so gottlos daherreden. Aber es stimmt, die Wahrheit ist’s und die darf man sagen.
Seit dreißig Jahren bin ich hier die Pfarrköchin. Seit dreißig Jahren mach ich den Herren Hochwürden immer den Haushalt. Sogar bei unserem alten Pfarrherrn, dem Herrn Pfarrer Rauch, war ich schon Köchin und hab den Haushalt gemacht. Immer zufrieden warens mit mir, die Herren Hochwürden. Ich hab schon einiges gesehen, des könnens mir ruhig glauben. Und deshalb sag ich ihnen, diese Sippschaft da draußen ist vom Luzifer geholt worden. Auch wenn Hochwürden des nicht gerne hört.
Gesehen hab ich den sogar, den Verderber, den Höllenfürst. Wie ich von meiner Schwester kommen bin. Die wohnt in Schamau, da geht der Weg ab nach Tannöd. Da, genau da, hab ich ihn gesehen. Am Waldrand ist er gestanden und hat rübergeschaut nach dem Ödhof vom Danner. Ganz schwarz war er, mit Hut und Feder auf dem Kopf. So schaut nur einer aus, des war er, der Teufel. So kann nur der ausschauen, sag ich Ihnen, und wie ich mich noch mal umgewendet hab, da war er verschwunden. Verschluckt vom Erdboden. Wundern braucht’s einen ja nicht, bei dem verruchten Treiben da draußen. 

Hochwürden Herr Pfarrer Meißner, 63 Jahre

Seit Kriegsende bin ich in dieser Gemeinde als Pfarrer tätig. Das sind nun auch schon wieder fast zehn Jahre. Aber so etwas, ein Mord, ist bei uns meines Wissens noch nie passiert. Viele Familien in der Gemeinde sind zutiefst verstört, verunsichert. Einige verlassen nach Anbruch der Dämmerung ihre Häuser nicht mehr. Das Gemeindeleben hat aufgehört zu existieren. Jeder misstraut dem anderen. Es ist eine richtige Tragödie.
Ein jeder hat doch geglaubt, die schlimmen Jahre liegen nun endgültig hinter uns, das Leben ist langsam wieder in die richtigen Bahnen gelenkt worden. Bei uns im Ort sind mittlerweile alle wieder heimgekehrt. Das Leben hatte sich wieder normalisiert und nun dieser Mord. Plötzlich geht die Angst wieder um, alles wird in Frage gestellt. Wir sehen, wie trügerisch der normale Alltag sein kann. Aber lassen wir das.

Alle Zitate aus: Schenkel, Andrea Maria. Tannöd (2014). Hoffmann und Campe; Erstveröffentlichung 2006 bei Nautilus