Unsere Leser*innen wollen mitgerissen werden, wollen eintauchen in unsere Geschichte und so lange darin herumplanschen, schwimmen, treiben, bis sie am andern Ufer – am Ende – angekommen sind. Das gelingt nur, wenn unser Geschichtenmeer nicht trockenfällt. Wenn unsere Leser*innen die Kühle des Wassers auf der Haut spüren, den Geruch nach Fisch, Muscheln und Algen in der Nase haben, das Salz auf der Zunge schmecken, hören, wie der Sand zwischen den Zähnen knirscht und die Wellen gegen den Bug eines alten Fischkutters platschen, zusammenzucken, wenn ein kalter, glatter Fisch im trüben Grund ihre Wade streift oder sich ein schleimiger Seegrastentakel um ihren Knöchel schlingt und ihre letzten Reserven mobilisieren, wenn sie sehen, wie am Horizont die Rückenflosse eines Hais durchs Wasser gleitet.

Kurz: Unsere Leser*innen wollen unsere Geschichte sinnlich erfahren.

Damit das funktioniert, solltest du in deinen Beschreibungen möglichst alle Sinne ansprechen (nicht immer alle gleichzeitig und auch nicht gleich stark, aber abwechslungsreich).

Wir alle kennen die 5 Sinne:

  • Gehör
  • Geruchssinn
  • Tastsinn
  • Sehen
  • Geschmackssinn

Darüber hinaus gibt es 4* weitere Sinne, an die wir zumeist nicht denken:

  • Temperatursinn
  • Schmerzempfinden
  • Gleichgewichtssinn
  • Körperempfindung (auch: Tiefensensibilität) – damit ist die bewusste Wahrnehmung des eigenen Körpers bzw. von Körperteilen gemeint

Manche rechnen auch noch den sog. 6. Sinn dazu – die Wahrnehmung von Schwingungen, Gefühlen, Atmosphären.

Die meisten von uns sind visuelle Wesen – wir nehmen unsere Umwelt in erster Linie über die Augen wahr. Ein deutlich kleinerer Teil der Menschheit registriert zuerst Geräusche, das Gehör steht im Vordergrund. Alle anderen Sinne spielen im Alltag eine untergeordnete Rolle. Es sei denn, sie sind in einer Situation besonders gefordert.

Diese Wahrnehmung unserer Welt spiegelt sich im Schreiben. Wenn wir schreiben, geben wir meist das Offenkundige wieder: Sehen und Hören. Um Atmosphäre zu schaffen, setzen wir auch noch den Temperatursinn ein. Aber das war’s auch schon. Die anderen Sinneseindrücke kommen – wie im wirklichen Leben – nur ausnahmsweise zum Einsatz.

Ein Beispiel:

„Ein hochgewachsener Mönch eilte den dunklen Korridor entlang. Die Sohlen seiner Sandalen klatschten so laut auf die Granitsteine des Bodens, daß man hätte glauben können, davon würde die ganze Abtei erwachen. Er hielt den dicken Stumpf einer Talgkerze in der Hand, deren Flamme in den zugigen Durchgängen flackerte und tanzte, ihm aber gerade noch den Weg erleuchtete. Ihr Licht verzerrte seine hageren Züge und ließ sein Gesicht eher wie die alptraumhafte Vision eines der Hölle entsprungenen Dämons erscheinen denn als das eines Dieners Gottes.

Die Gestalt hielt vor einer dicken Holztür und zögerte einen Moment. Dann ballte der Mann die freie Hand zur Faust und schlug zweimal dagegen. Ohne auf eine Antwort zu warten, hob er die eiserne Klinke und trat ein.

Der Raum lag im Dunkeln, denn noch hüllte Nacht die Abtei ein. Er blieb auf der Schwelle stehen und hob die Kerze. In einer Ecke ruhte eine Gestalt auf einem niedrigen Bett, in eine Decke gewickelt. Ihr schwerer, gleichmäßiger Atem verriet dem Mönch, daß sein Klopfen und plötzliches Eintreten den einzigen Bewohner des Raums nicht geweckt hatte.“ (Peter Tremayne: Tod in der Königsburg. Aufbau Verlag, Berlin 2002)

Die Szene spielt im 7. Jahrhundert in Irland. Wir können wohl davon ausgehen, dass nicht nur die Beleuchtung (Talgkerze statt Taschenlampe oder elektrischer Flurbeleuchtung) anders war als zur jetzigen Zeit. Talgkerzen stinken und rußen zum Beispiel furchtbar – nicht verwunderlich, schließlich verbrennt da altes Rinder- oder Hammelfett. Vermutlich war es in den alten Mauern feucht und kalt. Und wie eine Mönchszelle gerochen hat, möchte ich gar nicht wissen. Denn ich vermute, die Herren haben nicht jeden Tag geduscht.

All das enthält uns der Autor jedoch vor. Zwar entsteht ein Bild vor unserem inneren Auge, aber es pulsiert nicht, blubbert nicht vor Leben, reißt uns nicht mit.

Anders diese Szene aus „Das Parfum“ von Patrick Süskind (Diogenes Verlag, Zürich 1986)

„Zu der Zeit, von der wir reden, herrschte in den Städten ein für uns moderne Menschen kaum vorstellbarer Gestank. Es stanken die Straßen nach Mist, es stanken die Hinterhöfe nach Urin, es stanken die Treppenhäuser nach fauligem Holz und nach Rattendreck, die Küchen nach verdorbenem Kohl und Hammelfett; die ungelüfteten Stuben stanken nach muffigem Staub, die Schlafzimmer nach fettigen Laken, nach feuchten Federbetten und nach dem stechend süßen Duft der Nachttöpfe. Aus den Kaminen stank der Schwefel, aus den Gerbereien stanken die ätzenden Laugen, aus den Schlachthöfen stank das geronnene Blut. Die Menschen stanken nach Schweiß und nach ungewaschenen Kleidern; aus dem Mund stanken sie nach verrotteten Zähnen, aus ihren Mägen nach Zwiebelsaft und an den Körpern, wenn sie nicht mehr ganz jung waren, nach altem Käse und nach saurer Milch und nach Geschwulstkrankheiten. Es stanken die Flüsse, es stanken die Plätze, es stanken die Kirchen, es stank unter den Brücken und in den Palästen. Der Bauer stank wie der Priester, der Handwerksgeselle wie die Meistersfrau, es stank der gesamte Adel, ja sogar der König stank, wie ein Raubtier stank er, und die Königin wie eine alte Ziege, sommers wie winters. Denn der zersetzenden Aktivität der Bakterien war im achtzehnten Jahrhundert noch keine Grenze gesetzt, und so gab es keine menschliche Tätigkeit, keine aufbauende und keine zerstörende, keine Äußerung des aufkeimenden oder verfallenden Lebens, die nicht von Gestank begleitet gewesen wäre. […]

Hier nun, am allerstinkendsten Ort des gesamten Königreichs, wurde am 17. Juli 1738 Jean-Baptiste Grenouille geboren. […]“

Süskinds Beschreibung ist im Gegensatz zum Mönch, der nächtens durch die Abtei trampelt, ein opulentes Stück Sinnen-Literatur. Er veranschaulicht uns den allgegenwärtigen Gestank so eindringlich, dass wir kaum weiterlesen möchten. Wir beginnen uns beinahe zu fürchten vor dem, was da noch kommen mag. Bereits in dieser kurzen Sequenz prallt uns das Thema des Romans mit aller Macht entgegen: Die Widerwärtigkeit des Daseins eingefangen in infernalischem Gestank. Und selbst ein noch so betörender Duft vermag das Monströse nicht zu verdecken.

Damit wird eins deutlich, wenn wir Sinneseindrücke in unsere Texte einbauen: Sie müssen zu dem passen, was wir schreiben: zum Thema, zur Figur, aus deren Perspektive wir erzählen, zum Genre, zur erzählten Zeit.

In einem Liebesroman (oder eine Liebesszene) sind andere Sinneseindrücke von Bedeutung als in einem Horrorthriller. Ein Western oder ein Roman, der auf dem Land spielt, rückt andere Wahrnehmungen in den Vordergrund als ein Großstadtroman.

Hier noch ein Beispiel:

„Ich glaub, du hast eine ganz falsche Vorstellung von mir, kann das sein?“ Dabei wedelte er mit den Fingerspitzen durch die Flamme der Kerze auf dem Tisch zwischen uns. Sie rußte ziemlich stark und färbte seine Finger schwarz, die er gleich darauf am blütenweißen Tischtuch abwischte.

„Welche denn?“, fragte ich aus reiner Neugier auf Rickys Selbstwahrnehmung.

„Na ja – der Turbogang, den ich eingelegt hatte – zack ins Auto und ab ins Feld – ich meine, normalerweise werde ich nur bei Vollmond zum Werwolf …“

„Es war Vollmond.“

„Erwischt.“ Ricky fixierte mich mit ernstem Blick. „Was war eigentlich los mit dir in letzter Zeit? Hattest du ´ne Tarnkappe auf? Mittags im Coffeeshop war immer nur die Trulla mit dem abgefressenen Pony. Die meinte dann, du wärst gerade eben kurz weg. Hast du dich unterm Tresen versteckt oder was?“

Damit lag er goldrichtig. Und Ricky wusste ganz genau, dass die „Trulla“ Carmen hieß. Mit ihr war er auch schon Proberunden gefahren. Ich konnte nur hoffen, dass sie uns nicht über den Weg lief.

Heute wäre eigentlich ihr freier Tag gewesen, aber schon auf der Rolltreppe war mir in unerträglicher Intensität das ganze Sortiment unserer Aromen** in die Nase gestiegen, von Amaretto bis Zimt, sodass ich Carmen bitten musste, meine Schicht zu übernehmen. Nachdem ich dann den Schwangerschaftstest auf dem Centerklo minutenlang angestarrt hatte, verließ ich das Einkaufszentrum das erste Mal seit Wochen wieder durch den Vorderausgang, auf wackligen Beinen an Ricky vorbei. Das Laufen fühlte sich an, als müsste ich es erst neu lernen, als wäre mein Körper nur eine geliehene Hülle, ein Bewegungsapparat mit kaputter Lenkung. Mein Kopf nickte, als Ricky meinem Körper hinterherrief: „Heute Abend Futter fassen, im Oscars?“ Klar doch, bis dann.“ (Anne von Vaszary: Die Schnüfflerin. Knaur, München 2020)

Auch in diesem Roman steht der Geruchssinn im Vordergrund, aber hier haben wir eine Palette von Sinneswahrnehmungen: Optisch (die verrußten Finger, die an der weißen Tischdecke abgewischt werden), olfaktorisch (die Aromen, die ihr in die Nase steigen) und körperlich oder „tiefensensibel“ (das Laufen, das sich anfühlt, als müsse sie es neu lernen; der Kopf, der scheinbar eigenständig nickt).

 An dieser Sequenz zeigt sich eine wichtige Eigenschaft solch intensiver Beschreibungen: Sie nehmen Raum ein, verlangsamen die Handlung. Je mehr ich beschreibe, je mehr Sinneseindrücke ich schildere, desto mehr Platz benötige ich. Und desto länger dauert es, bis ich eine Szene erzählt habe. Deshalb verzichten viele temporeiche Texte und Action-Thriller auf ausführliche (im wörtlichen Sinn) sinnliche Ausführungen. Sie beschränken sich auf knappe Zusammenfassungen und versuchen, ihre Leser*innen über andere Haken zu ködern: Cliffhanger, explizite Gewaltdarstellungen, drastische Handlungen etc.

Was solchen Romanen oft fehlt, sind die Atmosphäre, der Tiefgang und die sprachliche Brillanz.

Nimm dir die Zeit, eine Situation, eine Szene mit allen Sinnen zu erleben und auch so aufzuschreiben. Worauf achtest du, wenn du frisch verliebt bist? Auf die strahlenden Augen deines Gegenübers, auf den Duft des Parfums, auf diese kleine Geste, mit der er oder sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn streicht, auf den Schauer, den eine Berührung seiner oder ihrer Hand auf deiner Haut auslöst – von Schmetterlingen im Bauch und anderen inwendigen Empfindungen ganz zu schweigen?
Was fällt dir auf, wenn du im Hochsommer von Land in die Großstadt kommst? Der Lärm, der Körpergeruch der Menschen in einer vollgestopften U-Bahn, die Luft, die über dem Asphalt zu flirren scheint, dessen Hitze du durch die Sohlen deiner Sandalen zu spüren glaubst, schweißnasse klebrige Körper, die sich – wieder in der U-Bahn – viel zu nah an deinen drängen, der Kinderwagen, der dir in die Hacken geschoben wird, weil da noch jemand mitsamt Familie in den überfüllten Wagon will, der Geschmack von Salz auf den Lippen, vom Schweiß, der dir von der Stirn tropft, oder der leicht bittere Geschmack eines Espressos, der nicht aus einem Kaffeevollautomaten kommt, sondern in einer Siebträgermaschine aus exklusiven Bohnen gebraut wurde?

Wahrnehmungen, die Assoziationen auslösen, sind sehr mächtig – viel mächtiger als Behauptungen:

„Es war ein Sommer, wie wir ihn als Kinder erlebt hatten.“ Aha, was will mir das als Leser*in sagen?

„Der Geruch von Sonnenmilch und trocknendem Seewasser auf der Haut, stieg mir in die Nase. Der Sand brannte unter meinen Fußsohlen, als ich zum Meer lief.“ Ja, genau, das kenne ich auch.

Nimm deine Leser*innen mit auf eine Reise in die Welt der Sinne, dann hast du sie am Haken und sie folgen dir über den See deiner Geschichte bis zum andern Ufer …

 

* Es gibt Expert*innen, und solche, die sich dafür halten, die sogar von 12 oder 13 Sinnen ausgehen, aber da scheiden sich die Geister. Deshalb beschränke ich mich hier auf die Sinne, über die Einigkeit herrscht.

** Die Protagonistin arbeitet in einer Kaffee-Bar.